Keramikversiegelungen versprechen eine transparente, glatte und harte Schutzschicht auf der beschichteten Oberfläche, die diese vor Mikrokratzern und Umwelteinflüssen zu schützt. Die Härte einer Keramikversiegelung wird dabei oft als der entscheidende Faktor kommuniziert, der über die Leistungsfähigkeit und Langlebigkeit des Schutzes entscheidet - Je härter die Keramik, desto haltbarer ist sie und widerstandsfähiger gegen äußere Einflüsse, so die Idee.
Mit Werten wie „5H, 9H, 9Hplus“ bewerben Anbieter Ihre Versiegelung. Wie aussagekräftig sind diese Kennzahlen? Ist eine 9H Versiegelung das Beste und alles andere eigentlich nur ein schlechter Kompromiss für den kleineren Geldbeutel?
Disclaimer: Wir verdienen seit vielen Jahren unser Geld damit, schöne Fahrzeuge mit Keramikversiegelungen noch schöner zu machen. Da uns in Kundengesprächen immer wieder Fragen zum Thema Härte gestellt werden und uns einzelne Kunden sogar konkret ermutig haben, im Internet dazu etwas zu schreiben, wollen wir nun unsere Gedanken dazu mitteilen. Wir hoffen Sie damit zu unterstützen, sich selbstständig eine Meinung zu bilden - ob Sie dann mit uns zusammenarbeiten möchten, ist eine ganz andere Frage, die Sie in Ruhe selbst beantworten sollten. Wir haben versucht möglichst neutral unser Wissen und unsere Erfahrung zu berichten und hoffen der Spagat ist gelungen.
Je härter die Keramik, desto haltbarer und widerstandsfähiger ist sie gegen äußere Einflüsse – so die These. Eine 8H Keramikversiegelung sollte damit also besser sein als jede 7H Versiegelung. Und eine 9H Keramikversiegelung alle 8H Versiegelungen ausstechen. Da Sie Ihr Fahrzeug schätzen und lieben, investieren Sie eben ein bisschen mehr und gönnen Ihm den besten Schutz mit einer 9H Versiegelung?
Klingt logisch, ist aber leider falsch – eine 9H Versiegelung von Anbieter A ist mit einer 7H Versiegelung von Anbieter B gar nicht ohne Weiteres vergleichbar und auch nicht mit einer anderen 9H Versiegelung. Überhaupt ist eine Kennzeichnung wie „9H“ mit Vorsicht zu verstehen und gleich aus mehreren Gründen. Warum wir das so sehen, erfahren Sie in diesem Artikel.
Fangen wir von vorne an. Um die Aussagen zur Härte von Keramikversiegelungen zu verstehen, müssen wir erst einmal herausfinden, was genau ein Wert wie „9H“ bedeutet.
Hatten Sie jemals die Freude in Schule, Ausbildung oder Studium in Kontakt mit technischen Tabellenbüchern zu kommen? Aus eigener Erfahrung, diese ergeben eher… naja, zähe Lektüre - hunderte Seiten an Tabellen mit Methoden, Kennzahlen und Werten. Was dabei jedoch spannend ist: Die Welt der Werkstoffe, Berechnung und Messmethoden ist komplex und vielfältig – für (fast) jeden Anwendungsfall gibt es spezialisierte Methoden, so auch zum Thema Härte.
Es gibt nicht eine einzige, sondern zahlreiche Methoden, um die Härte von Werkstoffen zu messen. Jede Methode hat ihr spezielles Anwendungsgebiet und die Werte der einen Methode sind nicht mit der der anderen zu vergleichen. Allein Wikipedia kennt schon mehr als 11 verschiedene Messmethoden – und das ist nur die Spitze des Eisbergs (siehe Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Härte).
Um zu wissen wie hart 9H ist, müssen wir also wissen welche Messmethode damit gemeint ist.
Leider finden sich in den seltensten Fällen weitere Angaben zur Skala oder Messmethode.
Wenn die Skala allgemein bekannt wäre, wie z.B. 100g Gewicht bei einer Tafel Schokolade, wäre das kein Problem, da wissen wir alle was ungefähr gemeint ist: Wir sprechen von Gewicht, und zwar in der Einheit „Gramm“. 100g sind genau doppelt so schwer wie 50g. Das Gewicht ist zwar abhängig von der Gravitationskraft der Erde, die ist auf der ganzen Erde aber einigermaßen gleich, damit ist das Gewicht weitestgehend global vergleichbar. Die Messmethode ist auch klar - Wir können Angaben sogar selber kontrollieren mit einer einfachen Küchenwage.
Wir haben länger zum Thema gesucht und wurden in Artikeln oder Kommentaren einzelner Hersteller dann schließlich doch fündig. Zwei Härte-Skalen wurden konkret erwähnt: die MOHS-Skala und die Bleistift Härte. Schauen wir uns diese also genauer an.
Schauen wir uns den ersten Kandidaten unter den möglichen Härteskalen genauer an: Das Konzept hinter der MOHS-Skala ist „Harte Stoffe ritzen weiche Stoffe“. Es ist eine relative Skala, die die Kratzfestigkeit von verschiedenen Materialien vergleicht. Ein höherer Wert bedeutet eine höhere Kratzfestigkeit. Sie geht auf einen Geologen Friedrich Mohs (1773–1839), der schlicht und einfach verschiedene Minerale gegeneinander ritzte und sie so nach ihrer Härte ordnete (1). Die Skala geht von 1 bis 10. Eine 1 ist so hart wie Talk (mit dem Fingernagel ritzbar), eine 6 wie ein Feldspat (mit Stahl ritzbar), eine 7 wie ein Quarz (Damit kann man schon Fensterglas ritzen) und eine 9 ist so hart wie ein Korund/Rubin. Härter ist auf der Skala nur noch mit 10 der Diamant, das härteste natürlich vorkommende Material auf der Erde.
Mit einer Keramikversiegelung von 9H auf der MOHS-Skala können Sie also selbst mit Ihrem treuen Schweizer Taschenmesser keine Kratzer mehr in die keramikversiegelte Oberfläche machen (Stahl hat je nach Legierung eine Härte zwischen 4 und 8 auf der MOHS-Skala). Gerne mal Bitte nicht ausprobieren!
Silizium selbst weist jedoch nur einer Härte von 6,5 auf der MOHS-Skala auf. Da Silizium die Basis aller uns bekannten Keramikversiegelungen ist sind 9H auf der MOHS-Skala physikalisch nicht möglich. Damit kann diese Messmethode/Skala nicht gemeint sein.
Wie steht es dann um den Kandidaten No.2 unter unseren Härteskalen? Beim Test von Lacken weiter verbreitet ist der Pencil Grade Tester oder „Wolff-Wilborn-Tester“. Der Test funktioniert so: Mit einer Vorrichtung werden Bleistifte absteigender Härte mit bestimmtem Winkel und bestimmtem Druck über die Oberfläche gezogen und es wird geprüft ab welcher Bleistifthärte das Oberflächenmaterial Kratzer bekommt. Das wird so oft gemacht bis man einen Bleistift hat, der die Oberfläche/Versiegelung beschädigt.
Wir haben es schon angedeutet: Neben dem Ergebnis des Tests „Bis zu einschließlich 9H Graphitmienen kratzfest“ sind auch die „bestimmten“ Parameter entscheidend: Mit welchem Druck wurde die Mine über die Fläche gezogen und in welchem Winkel. In Bildern aus dem Alltag: Es macht einen großen Unterschied wie fest und in welchem Winkel Sie mit Ihrem Taschenmesser die Initialen Ihrer großen Liebe in einen Baum ritzen (oder in den Schultisch in der letzten Reihe, oder den Mercedes des unfreundlichen Nachbarn – ok, zugegen nicht die besten Beispiele). Der „Ritzhärteprüfer TriForcePencil Modell 293“ des Herstellers Erchisen bietet z.B. drei 3 Krafteinstellungen von 5N, 7,5 N und 10 Newton (2).
Damit die Ergebnisse des Tests vergleichbar sind, braucht es also eine Angabe der Testparameter. Die finden sich bei unserer Suche aber nirgendwo in den Angaben zu den Versiegelungen.
Es gibt dabei noch ein weiteres Problem: Die Härte bei Bleistiften ist nicht standardisiert. Bekannte Hersteller haben zwar ihre internen Normen, aber international konnte man sich bisher auf keinen Standard einigen. 5H Bleistift ist also nicht 5H Bleistift.
Das Magazin „Besser Lackieren“ thematisiert die Problematik in einem Artikel (4) und Video (5) und kommt dabei zum Schluss:
Vor allem diese Aussage sitzt: „Eine ausreichende Härtebestimmung ist leider nur theoretisch möglich.“ (4)
Das Video des Magazins "Besser Lackieren" bietet einen guten Überblick übr die Problematik der Härtemessung mit dem Bleistifttest
Nun, es kommt darauf an – die Testwerte sind kaum vergleichbar ohne Angaben zum Verfahren und Bleistifthersteller. Während es für einen einzelnen Hersteller noch Sinn machen mag, einen Pencil Grade Tester in definierten Rahmenbedingungen innerhalb des eigenen Unternehmens zum Vergleich der Härte verschiedener Versiegelungsprodukte zu verwenden, ist die Vergleichbarkeit über verschiedene Hersteller und Anbieter quasi nicht möglich.
Schauen wir uns das Thema Härte nun einmal ganz generell an: Wie relevant ist die Härte einer Keramikversiegelung für Ihre Standzeit und Schutzwirkung?
Eine Keramikversiegelung ist sehr dünn, im Mikrometer-Bereich. Die Härte der versiegelten Oberfläche hängt damit primär von der Härte des versiegelten Materials ab, weniger von der Härte der Versiegelung selbst. Sobald ein Gegenstand mit genug Energie an die versiegelte Oberfläche kratzt oder aufschlägt, gibt die Versiegelung das an die Fläche weiter und diese gibt unter Umständen nach, ohne, dass die Versiegelung selbst beschädigt ist. Am Beispiel eines Autolackes: Eine Keramik kann einen weichen Lack nur bedingt härter machen, als der beschichtete Lack darunter selbst ist. Eine Keramik kann deswegen auch nicht vor größerem Steinschlag schützen, da die Aufschlagsenergie des Steins, sobald sie zu groß ist, den Lack darunter einfach mit „eindrückt“. Gleichzeitig ist die Härt der Versiegelung aber schon relevant, weil sie die idR. sehr kratzempfindlichen Lacke, solange die Energie nicht so hoch ist, vor Kratzern und Umwelteinflüssen schützen soll und damit leichte Kratzer und Microkratzer erheblich reduzieren kann.
Härte ist nicht das einzige Kriterium - Keramik muss auch flexibel sein, um sich bei Temperaturwechsel und Bewegung des Materials nicht abzuplatzen oder zu reißen. Ein Beispiel: Besonders harter Kohlenstoff Stahl ist oft sehr spröde und bricht u.U. bei Schlag. Auch bei eigentlich sehr günstigen und unempfindlichen Keramikmessern muss man dafür aufpassen diese nicht abzubrechen.
Die Haltbarkeit bzw. Standzeit einer Keramik hängt auch stark davon ab, wie gut die Keramik sich mit der Oberfläche verbindet. Die Keramik kann nur eine molekulare Verbindung mit dem zu versiegelnden Material eingehen, wenn der Untergrund richtig vorbereitet wurde, um sich später nicht zu lösen. Des Weiteren spielt die Schichtdicke eine wichtige große Rolle beim Ergebnis und der Haltbarkeit einer Keramikversiegelung.
Aus unserer Sicht sind Angaben wie „9H-Keramikversiegelung“ ein eher fragwürdiges Marketingversprechen. In unserer Recherche wurde fast nirgendwo erklärt, was genau damit gemeint ist, bzw. auf welche Skala sich die Angabe bezieht und wie sie gemessen wird.
Wenn Härteskalen erwähnt wurden, waren diese letztlich problematisch:
Eine Härte von mehr als 7H auf der MOHS-Skala ist für eine Siliziumbasierte Versiegelung physikalisch nicht möglich. Weiterhin wäre eine Härte von 9H so hart wie ein Rubin und selbst Stahl könnte keinen Schaden mehr anrichten. Nur ein Diamant, wäre mit 10H noch härter.
Härteangaben auf Basis der Bleistifthärte, die beim Test von Lacke weit verbreitet sind, sind hingegen kaum vergleichbar und damit wenig aussagekräftig, da zum einen Werte zu den Messbedingungen fehlen und weiterhin das Pencil Grade Testing, bzw. der Wolff-Wilborn-Testeher ungenaue und unzuverlässige Ergebnisse liefern.
Wichtig: Wir wollen an dieser Stelle niemanden schlecht machen, der mit Härte-Angaben wie 9H für seine Keramik wirbt – jeder schaut hin und wieder was die anderen so machen und wenn etwas scheinbar funktioniert, übernimmt man das vielleicht auch für die eigene Kundenaquise. Gleichzeitig halten wir es für angebracht die Werbepraxis mit fragwürdigen Kennzahlen als solche zu kritisieren und interessierten Menschen bei der Einordnung zu helfen, damit diese selbst entscheiden können, ob eine Werbeversprechen wie 9H eine sinnvolle Aussage ist. Werbepsychologie ist allgegenwärtig - Bietet man z.B. mehrere vergleichbare Angebote nebeneinander, dann nimmt der Kunde oft das Angebot in der Mitte oder sogar das teuerste – ob und wie man diese Mittel einsetzen möchte, kann und muss zum Glück jeder für sich selbst verantworten.
Wenn ein Anbieter verschieden Härten anbietet: Warum wird nicht gleich die beste Variante an den Kunden verkauft? Ist der teils hohe Preisunterschied nur durch die Herstellungskosten der Keramik rechtfertigbar? Bei uns macht die Keramik, so wichtig sie auch ist, 15% bis 20 % des Endpreises aus. Das Aufbereitungsmaterial wie Polierschwämme und unterschiedliche Polituren, sowie die sorgfältige Vorbereitung und der Aufbringungsprozess sind der größte Kostenfaktor! Ist die "9H+" Keramik so viel schwieriger zu verarbeiten als eine 7H Keramik, dass sie den Aufpreis rechtfertigt?
Wie wir gesehen haben, bietet die Angabe eines solchen Härtewerts keine belastbares Vergleichskriterium. Darüber hinaus ist die Härte der Versiegelung zwar wichtig, aber bei Weitem nicht das einzige Kriterium - damit wird also wenig ausgesagt und andere Parameter lassen sich kaum messen… daher sehen wir da keinen wirklichen Mehrwert.
Die Qualität einer Keramikversiegelung zeigt sich in mehreren Faktoren, neben der Härte der ausgehärteten Versiegelung ist deren Flexibilität, Temperaturbeständigkeit und Verbindung mit der Oberfläche entscheidend. Und wie lange das dann hält entscheiden noch ganz andere Dinge, wie die Vorbereitung der Oberfläche, die fachgerechte Aufbringung der Versiegelung und schließlich auch die Nutzung und Belastung. Im Zweifel empfehlen wir Ihnen Sie sich eher am Gesamteindruck zu orientieren, als einer einzelnen Kennzahl, z.B. über einen Blick auf die Rezensionen und ein Angebot samt Beratung der in Frage kommenden Anbieter...
In diesem Sinne: Wir hoffen wir konnten das Thema Härte einigermaßen unterhaltsam aufarbeiten und Sie hiermit unterstützen, sich selbstständig eine Meinung zum Thema zu bilden.
Alles Gute!
Stefan Rac und das ganze HOSS-Team
Fragen, Anregung oder Korrektur von Irrlehren? Lassen Sie es uns wissen – wir freuen uns über Ihren Kontakt und jedes Feedback – auch kritisches.
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Härte (Abgerufen 29.11.2024)
(2) https://www.erichsen.de/de-de/produkte/oberflaechenpruefung/harte-abrieb-und-scheuerfestigkeit/ritzharte/ritzharte-1 (Abgerufen 17.10.2024)
(3) https://www.anybrand.de/kugelschreiber/themen/bleistift-haertegrade (Abgerufen 18.10.2024)
(4) https://www.besserlackieren.de/technik-produkte/mess-und-prueftechnik/messung-der-bleistifthaerte/ (Abgerufen 18.10.2024)
(5) https://www.besserlackieren.de/podcast-videos/videos/die-bleistifthaerte/ (Abgerufen 18.10.2024)